Central and East European
Society for Phenomenology

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217519

Von Morgenstern zu El Lissitzky oder Über die allmählige Befreiung aus der Bleizeile

Gertrude Cepl-Kaufmann

pp. 395-414

Abstract

Niemand Geringeres als Fritz Mauthner, Sprachphilosoph und einer der geistigen Väter der literarischen Moderne, arbeitete um 1890 als Theaterkritiker beim Berliner Tageblatt, wurde Gründungsmitglied der Freien Bühne und Mitstreiter im Vorstand der Freien Volksbühne. Nicht zuletzt traf er dort auf Gustav Landauer, dessen Zuwendung zum Anarchismus in eben diese Zeit fiel. Mit Mauthner hätte Berlin ein Pendant zu Wien als Zentrum des Empiriokritizismus, zur Sprachskepsis der Jahrhundertwende werden können. Die dortige Intellektuellenszene ist aber von einer solchen existentiellen Bewußtseinskrise weitgehend verschont geblieben. Dies könnte als literarhistorische Marginalie angesehen werden. Die Tatsache, daß in Berlin trotz der Anwesenheit eines der wichtigsten Vertreter der modernen Sprachkritik ein solcher Nachahmungseffekt ausblieb, es keine geistige Hommage gegenüber der Hochburg eines subtilen Ästhetizismus gab, könnte den Berlinern in toto als mangelnde Differenziertheit vorgeworfen werden. Doch dahinter steckt mehr! Warum blieben die Berliner Literaten letztlich unempfindlich gegen die Verführungen des Ästhetizismus der Wienerischen Prägung? Man sollte sehen, daß die so gänzlich anders verlaufende Berliner Variante der Moderne zugleich ein produktionsästhetisches Phänomen andeutet, das weit über den lokalen Bezug hinausgehend Entstehungsbedingungen literarischer Epochen aufzeigt, ja, der gesamten Moderne eine Art Janusgesicht gibt: Der Wiener Untergangsstimmung, dem Fin de siècle, der Dekadenz, oder wie immer man die Wiener Moderne qualifizierend benennen möchte, begegnet auf der anderen Seite eine euphorische Aufbruchstimmung auf Seiten der Berliner Moderne, das »Wirf die Tore auf, Jahrhundert!«1, wie Heinrich Hart, der Wahlberliner, es in seinem Gedicht An das 20. Jahrhundert atmosphärisch einzufangen versucht hat.

Publication details

Published in:

Borsò Vittoria, Cepl-Kaufmann Gertrude, Reinlein Tanja, Schönborn Sibylle, Viehöver Vera (2002) Schriftgedächtnis — Schriftkulturen. Stuttgart, Metzler.

Pages: 395-414

DOI: 10.1007/978-3-476-02870-9_23

Full citation:

Cepl-Kaufmann Gertrude (2002) „Von Morgenstern zu El Lissitzky oder Über die allmählige Befreiung aus der Bleizeile“, In: V. Borsò, G. Cepl-Kaufmann, T. Reinlein, S. Schönborn & V. Viehöver (Hrsg.), Schriftgedächtnis — Schriftkulturen, Stuttgart, Metzler, 395–414.