Central and East European
Society for Phenomenology

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220552

Brauchen wir einen neuen Mythos?

Niklas Luhmann

pp. 254-274

Abstract

Die Frage, ob wir einen neuen Mythos brauchen, kann mit ja oder mit nein beantwortet werden je nachdem, wie man sie stellt. Es ist nicht einfach, die Frage genau zu formulieren. Wir stellen sie sicher nicht mehr im Sinne Schellings auf der Suche nach einer historischen Ganzheit und in der Absicht auf eine lebensnähere Alternative zu dialektischen Geschichtskonstruktionen1. Umso schwieriger ist es, Begriff und Fragestellung zu präzisieren, und es läßt sich schon vorweg ahnen, daß jeder Versuch zu einer genauen, auf empirisches Material beziehbaren Begrifflichkeit dem Anspruch zuwiderläuft, einen Mythos bilden und glauben zu können. Aber trotzdem: Meinen wir z. B. einen Mythos, nur einen einzigen für alle? Oder meinen wir irgendwelche Mythen, viele Mythen, beliebige Mythen, für jeden einen passenden? Und wo liegt dann die Grenze dessen, was man noch als Mythos bezeichnen kann. Die Tradition überliefert zahlreiche Mythen: Geschichten über die Entstehung der Welt und des Menschengeschlechts, Kämpfe und Siege, physische und moralische Katastrophen. Brauchen wir so etwas wie dies? Oder welche Veränderungen am Material läßt der Begriff zu? Die Polynesier hatten Mana, wir haben Vitamine, — unfaßbar und unsichtbar, glubschig, aber notwendig. Mana und Vitamine: ist das dasselbe? Ungefähr dasselbe?

Publication details

Published in:

Luhmann Niklas (1987) Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Pages: 254-274

DOI: 10.1007/978-3-663-01341-9_20

Full citation:

Luhmann Niklas (1987) Brauchen wir einen neuen Mythos?, In: Soziologische Aufklärung 4, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 254–274.