Central and East European
Society for Phenomenology

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199905

Dekonstruktion des Hermeneutischen Körpers

Helmut J. Schneider

pp. 153-175

Abstract

Kleists intrikater kleiner Text ›Über das Marionettentheaters der 1810 in den ›Berliner Abendblättern‹ erschien, wurde bekanntlich lange als mehr oder weniger direkte, wenngleich stellenweise kryptische Erörterung des klassischen Themas der Anmut im Kontext der idealistischen Geschichtsphilosophie verstanden. Diese Deutung ist in den letzten beiden Jahrzehnten in signifikanter Weise herausgefordert worden.2 Der Text, so könnte man sagen, öffnete seine produktive Rätselhaftigkeit; er wurde, im emphatischen Sinn dieses Worts, gelesen. Die Interpreten stellten sich den zahlreichen Sprüngen und Inkonsistenzen, ja Absurditäten der Argumentation. Wie kann auch, um den auffälligsten Punkt zu nennen, eine Marionette — oder ein fechtender Bär — als unübertroffenes Beispiel von Anmut und seliger Einheit mit sich selbst gelten? Wenn irgend etwas, so ist die hölzerne Puppe, deren klappernde Gliedmaßen durch die Fäden eines unsichtbaren »Maschinisten« dirigiert werden, doch das genaue Gegenteil der versöhnenden Werte organischer Ganzheit und Freiheit, die im ästhetischen Konzept der anmutigen Bewegung thematisiert wurden. Die Marionette lieferte daher stets das Bild menschlicher Verdinglichung und fremdbestimmter Äußerlichkeit. Entsprechend verständlich ist der Einspruch des Ich-Erzählers gegen seinen Gesprächspartner, den Tänzer Herr C., der die Mechanik der Figur provokant gegen den lebendigen Tanz ausspielt: »Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers.« (II, 342)

Publication details

Published in:

(1998) Kleist-Jahrbuch 1998. Stuttgart, Metzler.

Pages: 153-175

DOI: 10.1007/978-3-476-03755-8_8

Full citation:

Schneider Helmut J. (1998) „Dekonstruktion des Hermeneutischen Körpers“, In: , Kleist-Jahrbuch 1998, Stuttgart, Metzler, 153–175.